Ich hasse Literatur im digitalen Raum oder: „The reason why English teachers are my favourite“

Eine Polemik von Donat Blum

In vielem scheinen sich die Welt aus Nullen und Einsen und die Welt von staubigen Messen, Wasserglaslesungen und Literaturhäusern, in denen sich Parfumfahnen mit Schweißgerüchen mischen, frontal gegenüberzustehen. Allem voran: Während bei Offline-Lesungen stillgesessen werden muss, ist online die Ablenkung nur einen Klick entfernt. Die Aufmerksamkeitsspanne, auch meine, ist online viel zu kurz für tiefergreifende Literatur. Online funktioniert nur, was polarisiert. Und ich mag mich nicht ständig streiten.

Damit könnte dieser Text zu Ende sein. Nur: Ich hab’s nicht so mit Vorurteilen. Und ich verbringe dermaßen viel Zeit in den sozialen Medien, dass ich mich auch dort nach sprachlich sorgfältig gearbeiteten, fundierten und poetischen Inhalten sehne. Ich würde mir wünschen, dass ich in der U-Bahn oder abends vor dem Zu-Bett-Gehen auf meinem Smartphone ähnlich wie von journalistischen und cineastischen Angeboten auch von literarischen Inhalten verführt werden würde.  

Mehr als sechs Stunden hat die Bevölkerung Deutschlands 2018 laut einer Studie der Postbank täglich im Internet verbracht.[1] Und eineinhalb Stunden scrollen die 16- bis 64-Jährigen laut Hootsuit durch die sozialen Medien, kommentieren, posten und chatten auf WhatsApp (79,6% der User*innen), YouTube (74,8%), Facebook (60%), Instagram (46,9%) und Twitter (22,8%).[2] Auch mein Smartphone gibt die Bildschirmzeit mit einem derzeit täglichen Durchschnitt von 3 Stunden 23 Minuten an, wovon 1 Stunde 43 Minuten auf soziale Medien entfallen.

Dass der digitale Wandel in den allermeisten gesellschaftlichen Bereichen längst Realität ist, scheint uns im Literaturbetrieb allerdings herzlich wenig zu kümmern. Mit Fixpoetry ging Ende 2020 eines der letzten deutschsprachigen Portale, das Literatur online erlebbar gemacht hatte, vom Netz. Niemand sprang in die Bresche. Finanzierungsanträge seien erfolglos geblieben, hieß es.

Wir Autor*innen und Literaturvermittler*innen verfassen denn auch lieber Abschiedsbriefe, Protestschreiben und Petitionen gegen Kürzungen der Literaturberichterstattung im linearen Fernsehen, im Radio und in den Feuilletons, als uns gegenseitig in den Hintern zu treten, um uns dabei zu unterstützen, dass sich die Literatur endlich dahin begibt, wo die Leser*innen sind. Und nicht nur die: Auch viele von uns Autor*innen scrollen stundenlang durch die sozialen Medien, lesen dies und das und schreiben hier und da sogar ausführliche Texte. Meistens allerdings, um sich über die mangelnde ‚Kultur‘ auf dieser oder jener digitalen Plattform auszulassen. Die Scham, Zeit online ‚zu verschwenden‘, ist unter Autor*innen groß. Nur die wenigsten verlinken ihre Social-Media-Profile beispielsweise mit der persönlichen Website oder derjenigen des Verlages.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Die oben genannten Kürzungen der Literaturberichterstattung und den harschen Umgangston auf Facebook und Twitter gilt es zu beklagen. Über die Online-Debattenkultur soll reflektiert werden. Und wir Autor*innen haben natürlich auch alle mehr als genug mit dem Schreiben von ‚richtiger‘ Literatur zu tun – da können wir nicht auch noch jede neue Marketinglücke schließen, die entsteht, weil die Verlage ihre Pro-Buch-Budgets stetig weiter verkleinern.

Der einseitige Blick zeigt auch deutlich, wo der Literaturbetrieb stehengeblieben ist. Das hat viel mit einigen klassischen Fallen zu tun, in die wir als Literaturvermittler*innen gerne treten, wenn wir doch einmal wieder versuchen, das Schicksal der Literatur in der bald weitgehend digitalisierten Gesellschaft in die eigene Hand zu nehmen:

In Falle Nummer eins beispielsweise, dem Ausruhen auf dem Privileg, einst Liebling des Bildungsbürger*innentums gewesen zu sein. Beim Konzipieren von Vermittlungsformaten denken wir noch immer in den Narrativen eines ARD-Films mit Bildungsauftrag, der uns suggeriert, Literatur werde für Leute 65 + gemacht, die das Klassik-Radio einschalten, während sie den Teig für den Sonntagszopf kneten und, wenn es süßlich aus dem Ofen duftet, das Feuilleton aufschlagen, um dort zu lesen, wie der neuste Wurf von Handke hochgejubelt wird. Onlinemedien kommen in dieser immer wieder kolportierten Erzählung nicht vor.

Natürlich bemühen sich mittlerweile – von der Pandemie dazu gezwungen – immer mehr literarische Institutionen um ihre Online-Auftritte und versuchen, in den Cyberspace vorzudringen. Dabei treten allerdings die meisten noch immer in Falle Nummer zwei: Sie verstehen die sozialen Medien als digitalen Veranstaltungskalender, wenn es hochkommt, als Fernseh-Ersatz.

Die sozialen Medien sind aber weder Kanzeln, von denen gepredigt werden kann, noch Hörsäle für uferlosen Frontalunterricht, sondern ein digitales Forum, eine ‚Agora 5.0‘, in der funktioniert, was das Publikum zum Mitmachen animiert.

Das heißt: Online sind keine Kopien von 90-minütigen Wasserglaslesungen angesagt, sondern, wenn schon eine Kopie, dann die der Diskussionen davor, währenddessen und danach. Das hat vor allem pragmatische Gründe: Soziale Medien leben von der Interaktion. In den Augen der Algorithmen gilt als interessant, was auf Interesse stößt. Sie potenzieren die Verbreitung von Posts, die oft und schnell geteilt, kommentiert und geliked werden. Konkret bedeutet das beispielsweise auf Facebook, dass hochgeladene Fotos mit Gesichtern – gemäß alter Marketingweisheit der Publikumsliebling schlechthin – von den Algorithmen stärker verbreitet werden als textlastige Posts oder geteilte Zeitungsartikel, die User*innen von den Plattformen wegführen könnten.

Der ‚Zwang‘ zu Interaktion führt uns zur Falle Nummer drei: Der einfachste Weg, Reaktionen von User*innen anzuzetteln, ist zu posten, was provoziert und polarisiert, beispielsweise: „Ich hasse Literatur im digitalen Raum“. Denn Lärm lässt sich am effektivsten durch Streitereien erzeugen – eine Falle, in die derzeit allen voran Medienhäuser in der Schweiz und Deutschland treten. Durch Polarisierung steigen die Klickzahlen zwar kurzfristig, der allgemeinen Stimmung und einer entschleunigten Atmosphäre, die es braucht, damit User*innen Literatur erfahren können, ist der exzessive Gebrauch hingegen wenig zuträglich. Wenn sich Steiner & Tingler über die schlechtesten Bücher streiten oder Denis Scheck in seinem „Anti-Kanon“, der die aus seiner Sicht schlechtesten Bücher der Weltgeschichte versammelt, Blitze auf Christa Wolfs Kassandra schleudert, generieren sie damit zwar Aufmerksamkeit, aber welcher Mensch greift schon zum ‚schlechtesten Buch‘, um es zu lesen? Klar, sie*er loggt sich gegebenenfalls für eine weitere Runde des Spektakels ein. Statt der Literatur profitieren dann aber nur die Vermittler*innen. Sie können sich ‚profilieren‘ und gewinnen an Diskursmacht, die sie im Idealfall für mehr Vielfalt in der Literatur einsetzen. Aber eben: im Idealfall. Siehe Denis Scheck.

Ich muss meinen Eingangssatz umformulieren: Ich mag digitale Literatur, aber nicht so, wie sie derzeit – wenn überhaupt – stattfindet.

Um einen anderen Weg einzuschlagen, habe ich zu Beginn der Pandemie das Online-Literaturfestival Viral initiiert, das erste seiner Art. Auf den Facebook-Aufruf am Sonntag nach der Ankündigung des ersten Lockdowns haben innert weniger Stunden über 80 Autor*innen geantwortet, die lesen und mithelfen wollten, das Festival auf die Beine zu stellen. Mit Kathrin Bach, Melanie Katz und mir machten sich drei Autor*innen an die Arbeit, Literatur in dem Moment, da alle zuhause vor den Bildschirmen nach Beschäftigung suchten, auch online relevant zu machen.

Der Bedarf nach Nähe und Begegnung war riesig, wir setzten auf den Live-Moment mit der Überzeugung, dass er die mangelnde technische Professionalität aufwiegen würde. Und es gelang uns tatsächlich, innerhalb von sechs Wochen auf Facebook eine kleine Literaturszene aufzubauen, die sich je nach Lesung mehr oder weniger aktiv mit Kommentaren einbrachte.

Für alle Veranstalter*innen – von Theater bis zu Fernsehen und Radio – ist der Live-Moment ein bewährtes magisches Extra, das sie für sich zu nutzen wissen. Nur Literaturinstitutionen setzten zu Beginn der Pandemie trotz unseres Angebots der Zusammenarbeit lieber auf tadellose Aufzeichnungen klassischer Lesungen und Buchbesprechungen. Es galt die Devise: Nur nichts falsch machen. Keine Blöße zeigen. Kein Risiko wagen.

Das ist denn auch eine der Hauptsachen, in denen sich die Welt der Einsen und Nullen von der Welt der staubigen Messen unterscheidet: Der Cyberspace ist dynamisch und Literatur im Wesenskern konservativ. Seit Jahrhunderten werden in Büchern Geschichten und Sprache zwischen zwei Deckel gepresst, um sie nach einmaliger Lektüre in einem Regal auszustellen. Dabei geht schnell vergessen, was Literatur zum Leben erweckt: Menschen, die die Geschichten in die Hand nehmen, wenn sie sie schreiben, lesen und darüber reden. Ob das off- oder online geschieht, ist dabei erst einmal egal. Recherchiert und geschrieben wird schon lange am Computer. Es bleib unergründlich, warum das Lesen und Anhören von Literatur und das Gespräch darüber nicht auch auf einem Bildschirm stattfinden können sollte. Wir müssen es nur lernen.

In der ganzen Breite des Literaturbetriebs herrscht großer Nachholbedarf, was das Verstehen und Nutzen der Funktionsweisen der digitalen Welten angeht, angefangen bei den oben genannten Fallen, die den gegenwärtigen digitalen Stillstand mitverantworten. Wir müssen uns endlich proaktiv fragen, in welcher Rolle wir Literatur im Internet und insbesondere in den sozialen Medien sehen wollen, damit wir den digitalen Wandel auch in der Literatur(vermittlung) selbstermächtigt vollziehen können.

Was ist also das Potential des digitalen Raums für die Literatur? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit schaue ich mir als Ausgangslage entsprechender Überlegungen die Web-Auftritte der Mitglieder des Netzwerks der Literaturhäuser[3] sowie diejenigen des Literaturforums im Brecht-Haus an:

Die Auftritte scheinen nahezu ausschließlich auf die Funktion als schwarze Bretter (Termine, Öffnungszeiten, Anfahrt) ausgerichtet zu sein. Teilweise verfügen sie über Streamingkanäle, die hauptsächlich zum Verbreiten von Aufzeichnungen klassischer Offline-Lesungen verwendet werden. Dabei fällt auf: Die digitalen Veranstaltungen sind nur selten öffentlich zugänglich archiviert, auch nicht in Ausschnitten oder anderweitiger Form, wie beispielsweise in mit Screenshots bebilderten Berichten. Zugespitzt lässt sich sagen, dass sich wenig bis gar keine eigentlich literarischen Inhalte finden lassen. Einzig Werbung dafür.

 

Anders sieht es beim Literaturforum im Brecht-Haus aus, das einen dynamischeren Weg eingeschlagen hat: Zwar ist die Oberfläche der Website auf den ersten Blick visuell sehr homogen und wenig verführerisch. Die Social-Media-Kanäle sind durchdesignt, sie fungieren als Newsticker und kaum diskursiv; nach dem Klicken durch die Vorschaubilder eröffnet sich allerdings eine wahre Goldgrube an Veranstaltungsaufzeichnungen und extra für den Online-Auftritt des Hauses konzipierte Videoformaten, die mal auf der Meta-Ebene über Literatur nachdenken, mal thematische Recherche betreiben oder den Zuschauer*innen die Möglichkeit bieten, Literatur und Autor*innen direkt zu erleben.

Damit zeigt das Literaturforum im Brecht-Haus eine Richtung auf, in die wir uns als Literaturbetrieb digital bewegen könnten. Literaturvermittlungsinstitutionen springen hier digital in die Lücken, die das Wegbrechen der Literaturberichterstattung in Radio, Fernsehen und Zeitung hinterlassen. So gestalten sie die Literatur wieder auf eine Weise mit, die sowohl die Inhalte als auch die Vermittlung aktiv, selbstbewusst und auf die digitale Welt zugeschnitten weiterdenkt.

Im Nachgang zu Viral habe ich in diesem Sinne an verschiedenen Stellen vorgeschlagen, dass sich Akteur*innen des Literaturbetriebs zusammenschließen oder zumindest online besser vernetzen sollten, um damit so etwas wie ein grenzüberschreitendes Videoportal der Literatur entstehen zu lassen: eine kuratierte Online-Plattform, die literarischen Content aus dem gesamten deutschsprachigen Raum aufbereitet, um damit die sozialen Medien zu bespielen und Menschen für Literatur und einen bewussten und künstlerischen Umgang mit Sprache zu begeistern. Mitte November 2021, während der Überarbeitung dieses Textes, hat das Berliner Literaturhaus mit Literaturkanal.tv nun einen wichtigen Schritt in diese Richtung gemacht.

Damit wäre das letzte Stichwort gefallen: Bespielen. Der deutschsprachigen Literatur fehlt es online und insbesondere in den sozialen Medien weitgehend an einem spielerischen Um- und damit niederschwelligen Zugang. Dabei darf nicht unterschätzt werden, wie viele Menschen über die Literaturhaus-Besucher*innen hinaus Sprach- und Erzählkunst schätzen. Deutlich wird das beispielsweise bei einem Video von English Teacher KP, dessen Textanalyse am 31. Juli 2021 bereits 18.594-mal geliked, ergänzt, kritisiert und gefeiert wurde – und aus dessen Kommentarspalte das Zitat im Untertitel dieses Textes stammt.[4]

Das 21 Minuten lange, selbst aufgezeichnete Video im Stil des beliebten Reaction-Video-Prinzips zeigt eine Englisch-Lehrerin, die sich zum ersten Mal den Song Champagne Problems von Taylor Swift anhört. Dabei analysiert sie mit viel Charme und persönlichen Anspielungen Zeile für Zeile den Liedtext. Die zum Zeitpunkt des Abrufs 2.473 Kommentator*innen unter dem Video sind begeistert. Ein*e User*in namens Alyssum C. schreibt: „I can’t explain this but you’re the kind of teacher i would accidentally call ‚mom‘.“ Ein*e ander*e namens Red: „The reason why English teachers are my favourite.“ Andere User*innen schlagen alternative Interpretationen vor oder gleichen die Vorschläge der Englisch-Lehrerin mit ihren ab. Aus der Textanalyse entsteht in den Kommentaren eine regelrechte Textdiskussion.

Was spricht dagegen, Formate wie dieses auch auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur anzuwenden? Auf deutschsprachige Lyrik oder Liedtexte? Die Vermittlung von Literatur und Sprachkompetenz würde es auf jeden Fall bereichern.

Der digitale Wandel passiert. Und er umfasst viel mehr als die Diskussion um E-Books. Statt noch eine fünfhundertdreißigste Wasserglaslesung aufzuzeichnen und für einige Tage ins Netz zu stellen, sollte ein Ziel von uns Literaturvermittler*innen aller Art sein, dass bald auch unter deutschsprachigen Textanalysen solche Kommentare stehen.

[1] Postbank: Deutsche pro Woche fünf Stunden länger im Netz als im Büro, 2018. www.postbank.de/unternehmen/medien/meldungen/2018/juni/deutsche-pro-woche-fuenf-stunden-laenger-im-netz-als-im-buero.html (Zugriff am 01.09.2022).

[2] We Are Social: Digital 2021: Wie digital ist Deutschland?, 2021. www.wearesocial.com/de/blog/2021/02/digital-2021-wie-digital-ist-deutschland (Zugriff am 01.09.2022).

[3] Netzwerk der Literaturhäuser e.V.: Das Netzwerk der Literaturhäuser, 2021. www.literaturhaus.net/netzwerk (Zugriff am 01.09.2022).

[4] Youtube: English Teacher Reacts to "Champagne Problems" by Taylor Swift for the First Time, 2021. www.youtube.com/watch?v=IFvH57ZvGr0 (Zugriff am 21.12.2021).

 

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