Start With This: Das unsichtbare Publikum

Mirjam Wittig, Simoné Goldschmidt-Lechner, Elske Beckmann

Screenshot aus Gathertown

Meine Lieblingsvorstellung, kurz bevor es losging: Das unsichtbare Publikum rennt unsere unsichtbaren offenen Türen ein.

Schön an dieser Vorstellung ist die Eile. Wie gern alle die Schwelle übertreten wollen, einen Platz vor der Bühne einnehmen, das Fenster öffnen, den Code eingeben: „Entrez. Be amazed.“ Schräg an dieser Vorstellung ist, dass da in unserem Raum, der kein Raum ist, etwas stattfindet, das irgendwie auch nicht stattfindet. Darf ich Ihnen also unser Publikum vorstellen: Es ist unsichtbar. Es ist nicht zu hören. Es nimmt keinen Raum ein, strahlt keine Körperwärme ab. Es ist ein unverwirklichtes Publikum. Es lebt hinter etwas Flächigem, Undurchlässigem, es lebt irgendwo. Es lebt doch, oder? Verborgen hinter Paypal-Zahlen, versteckt hinter E-Mail-Adressen unseres Newsletters, der gleichzeitig als unser Einlasssystem fungiert. Auf der Suche nach einer Konkretisierung lesen wir über seine Namen in das Publikum eine Demografie herein: Vornamen werden einer bestimmten Generation zugeordnet, von Nachnamen Schlüsse auf einen Sprachraum gezogen (ein unangenehmer Reflex). Das Publikum ist von Hand geschrieben auf den Adressschildern der Merch-Pakete – und ab und zu erwischen wir es auf einem freundlichen Blogartikel, auf den wir nach dem Festival stoßen. Es waren Leute da!

Gerade die Merch-Pakete mit T-Shirt, Klebetattoos, Poster u.a. waren einer unserer Versuche, für das Festival irgendeine physische Komponente zu generieren. Die Tattoos brachten die Arbeit zweier Illustratorinnen, dem Künstlerduo WalterWolff, direkt auf die Haut, und die T-Shirts konnten am Körper durch den physischen Außenraum getragen werden. Sie wurden viel gekauft.

Die Zeit scheint unsere Körper zu brauchen. Keine von uns erinnert sich besonders intensiv an Prosanova 2020. Schon eine Woche, nachdem das Festival stattgefunden hatte (zum ersten Mal ausschließlich online), hoben wir alle die Schultern – das Gefühl war längst vorbei. Das virtuelle Festival mit dem virtuellen Publikum hat virtuelle Gefühle freigesetzt, die wir nicht oder nur wenig verkörpert haben. Sie blieben ohne physischen Träger, das hat sie flüchtig gemacht.

Auch das Verhältnis zwischen Künstler*innen und Veranstaltenden blieb zum Großteil ein körperloses, ich weiß nicht, ob wir uns gegenseitig auf der Straße erkennen würden. Wir lebten letztes Jahr füreinander irgendwo hinter Bildschirmen, vielleicht in Ausstülpungen dahinter, in Höhlen. Die Höhlen der Künstler*innen stellten wir uns schillernd und aufregend, traurig und zärtlich vor: Ihre Texte boten uns Anhaltspunkte zur Projektion – wenigstens die Künstler*innen, das Herzstück dieses Festivals, waren irgendwie spezifische Unverkörperte. Nach dem Wochenende durften wir hin und wieder begeisterte E-Mails an sie weiterleiten, Kontakte vermitteln: Wie uns die Künstler*innen sagten, waren das auch für sie selbst Inseln von Greifbarkeit, Beweise dafür, dass eben doch etwas stattgefunden hat.

Heute bin ich mir manchmal nicht mal sicher, ob wir wirklich etwas veranstaltet haben – beziehungsweise was für ein Prosanova wir veranstaltet haben. Entscheidet nicht erst das konkrete Publikum darüber, welches Bild die Veranstaltenden von sich selbst haben Mirjam Wittig, Simoné Goldschmidt-Lechner, Elske Beckmann 44 45 dürfen? Zum Beispiel in Hinblick auf die Frage, wie offen eigentlich diese Türen waren, wie niedrig diese Schwellen, wie einladend das Programm.

Natürlich finden digitale Lesungen statt. Nur scheint mir der Wirklichkeitsstatus der virtuellen Veranstaltung fragiler, weil wir an sie eben so wenig körperliche Erinnerungen haben, mit ihnen so wenig körperliche Erfahrungen machen. Vielleicht müssen wir in Zukunft andere Maßnahmen, Übungen der Verkörperung entwickeln. Wie könnten diese aussehen? Wie stellen wir Koexistenz her, die sinnlich erfahrbar wird? Wie sorgen wir als Veranstaltende dafür, dass das virtuelle Erlebnis sich nicht verflüchtigt, sondern an den konkreten Zuschauer*innen haften bleibt, an einem Körper, der den Text noch in sich trägt, wenn der Bildschirm ausgeht?

Text kann eigentlich alles. Prosanova arbeitet seit Anbeginn an ungewöhnlichen Formaten, neuen Erfahrungsmomenten schriftstellerischer Arbeiten, dem Wegbewegen von der Wasserglaslesung. Eine Aufgabe, die die reine Betrachtung des Textes hin zu den Menschen erfordert, die eben diesen aufnehmen wollen. Wie kann Sprache, Video, Zeichnung, Gespräch oder Performance den geschriebenen Text tragen und zum Leben erwecken? Wir beobachten, wie sich die eigene Haltung verändert, wenn das Werk von einer virtuellen Taxifahrt durch die Stadt des Hauptspielortes begleitet wird oder triste schwarz-weiß Aufnahmen von Bergbächen und leerstehenden Skiliften die Stimmung der Erzählung kontrastieren und in eine unerwartete Absurdität ziehen. Je mehr Sinne, umso mehr Nähe – Nähe zu den Texten, affektive Berührung, zur Not sogar die reale körperliche Gänsehaut zu erzeugen, wurde zu einem neuen, wichtigen Ziel der Formate dieser sozial distanzierten Festival-Ausgabe. Die Vorstellungen, wie Prosanova sein würde, haben sich ab dem ersten Tag unserer Zusammenarbeit geformt und mit der Pandemie schlagartig verändert. Aus Walkie-Talkies an den Gürtelschlaufen und gehetzten Blicken wurden interne Chatgruppen und eine Hotline zu unserer Web- Designerin Verena Spilker. Aus in der Hand balanciertem Klemmbrett, Slushie und Werkzeug wurden Zoom und die Tool-Leiste von Wordpress. Wir hatten eine lange Liste mit Dingen, die schief gehen könnten (Kanalisationsüberflutung, Bombenwarnung, Feueralarm etc.), und wer in welchem Fall wofür verantwortlich sein würde. Und dann stürzte am Samstagmorgen einfach der Server ab, über den alles lief, und das Festival musste eine Stunde später starten. Was irgendwie gar nicht so schlimm war, weil niemand in strömendem Regen auf dem Bordstein vor dem Tor warten musste.

Kurz vor Festivalbeginn wurde eine Telegram-Gruppe eingerichtet, die durch die Programmpunkte des Tages führte und diese mit Frage-Stunden mit Autor*innen oder Gute-Nacht-Lesungen gerahmt hat. Auf der Community-Website Gather Town konnten Besucher*innen sich sehen und miteinander ins Gespräch treten. Uns erreichten am Festivalwochenende und in der Zeit danach so viele Nachrichten von Menschen, die einen Programmpunkt oder alle der insgesamt ungefähr 50 verfolgt haben!

Das Publikum war also da, es saß vor dem Text, es saugte den Text auf wie ein durstiges neugeborenes Kind. Text kann eigentlich alles – nur das Gefühl, bei 25°C über ein Festivalgelände zu streifen, durch den Timetable zu blättern, zwischen Veranstaltungen neben Freund*innen in Liegestühlen abzuhängen und über Autor*innen zu reden, ersetzt ein digitaler Text nie ganz, egal, wie er aufbereitet wird. Das heißt also folglich, dass unser digitales Festival ein echtes Festival nie würde ersetzen können, dass durch den mangelnden Austausch schreibender Personen mit tatsächlich vorhandenen Personen auf dem Festivalgelände zu viel restlos verloren geht. Oder heißt es das?

Vielleicht ist das unsichtbare Publikum aber auch die Essenz literarischer Praxis: Im Schreiben selbst liegt naturgemäß eine Mittelbarkeit, zumeist entsteht es mit imaginiertem Publikum im Privaten, in der Vorstellung von Autor*innen. Diese Mittelbarkeit für Prosanova aufrechtzuerhalten, das bedeutet auch, dass die von den Autor*innen imaginierten Leser*innen intakt bleiben. Da ist kein unaufmerksames Publikumsmitglied, das mitten in der Lesung im halbtrunkenen Zustand einschläft, keine Person, die in Diskussionsrunden Geschichten auseinanderdividieren kann, auch deswegen, weil wir etwa auf virtuelle Diskussionsrunden größtenteils gezielt verzichtet haben. Die Texte stehen für sich, erhalten durch ihre digitale Inszenierung eine zusätzliche ungestörte Seinsebene: All das existiert.

Für Formate wie Was bleibt, in dem die Texte verstorbener BIPOC-Autor*innen inszeniert werden, bedeutet das neue, körperlose Format vielleicht einen Gewinn: Der ungestörte Text darf Individuen im Publikum ohne Einmischung anderer Publikumsmitglieder berühren, darf stehen bleiben, existieren, und im digitalen Raum über die begrenzte Zeit hinweg existieren, selbst wenn es vom Publikum nicht länger eingesehen werden kann.

Das unsichtbare Publikum selbst passt sich jedem Format nach unseren Vorstellungen an, bleibt formbar, die Interaktionen sämtlich freiwillig, weil es stets verschwinden kann, weil es immer anonym bleibt, weil wir es selten direkt zur Antwort aufgefordert haben (unsere Kommentarspalten, die es gab, wurden wenig genutzt). Für jede von uns aus dem Kurationsteam heißt das: Es ist genauso, wie wir es uns vorgestellt haben, im Kollektiv und einzeln. Und weil das Event eben trotz allen Bedauerns nicht nur ein Event der Körper ist, der Eventcharakter nicht ausschließlich vom Gossip in den Pausen lebt, sondern wir ja trotz allem die Texte hatten, um die es uns allen doch immer noch am meisten geht, für die wir doch alle da sind, für die auch unser unsichtbares Publikum da war: Bleibt auch dieses unsichtbare Publikum nicht, wie in unseren Ängsten, sleek und on the surface. Es klickt sich ein in unsere Herzen, und wir lieben es für immer.

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Ich hasse Literatur im digitalen Raum oder: „The reason why English teachers are my favourite“